Seit zehn Minuten steigt das Wasser in meinen Wanderschuhen langsam, aber stetig an. Die dicht gewachsenen Bäume schützen zwar vor dem strömenden Regen, doch gegen die Wassermassen in dem schlammigen Sumpf, den die schottische Nationalparkverwaltung als Wanderweg bezeichnet, können selbst die besten Wanderschuhe nach einiger Zeit nichts mehr ausrichten.
Als ich aus dem Wäldchen auf eine freie Fläche hinaustrete und die Regentropfen unbarmherzig auf meinen Kamerarucksack einprasseln, bange ich um meine teure Kameraausrüstung: Hoffentlich hält der regenfeste Rucksackschutz, was er verspricht. Nach dem Unglück, das wir in den letzten Tagen erlebt haben, rechne ich mit dem Schlimmsten.
Rückblick: Fünf Tage zuvor
Ich bin mal wieder spät dran.
Dabei hat alles so entspannt angefangen. Nach dem Frühstück packe ich die letzten Sachen für unsere Schottlandreise. Ein kurzer Blick auf die Uhr zeigt, dass ich noch massig Zeit habe.
Doch aus „zu viel Zeit“ wird nach ein bisschen Netflix gucken, ganz schnell: „keine Zeit“. Hastig packe ich meinen Koffer und meinen Rucksack in mein Auto, verabschiede mich von meinen Mitbewohnerinnen und stelle – zurück im Auto – fest, dass ich (mal wieder) vergessen habe zu tanken.
Ich verfluche meine Abneigung gegenüber Tankstellen und hoffe, dass es auf der Fahrt von Koblenz nach Köln keinen Stau gibt, der mich noch mehr Zeit kostet.
Aber alles geht gut. Vorerst. Ich treffe Pascal am verabredeten Ort. Wir haben sogar noch genug Zeit für einen Kaffee, bevor wir uns auf den Weg zum Flughafen machen.
Allerdings stellt sich dann heraus, dass wir auf dem Parkplatz, auf dem wir parken sollen nicht parken können und auf dem Parkplatz, auf den wir ausweichen wollen in einer Woche eine absolute Halteverbotszone eingerichtet wird.
Es ist alternativlos oder wie man das unter Politikern so sagt. Natürlich gibt es immer eine Alternative. Aber wir wollen die Gebühren für zwei Wochen Parken am Flughafen nicht zahlen und parken deshalb an einer Straße, die keiner von uns kennt und reden uns dabei ein, es sei alternativlos.
Die Parkplatzsuche hat uns viele wertvolle Minuten gekostet. Wir rennen zur nächsten S-Bahn Station und stellen fest, dass die Bahn von dort direkt zum Flughafen fährt. Allerdings nur alle 30 Minuten und die Letzte haben wir gerade verpasst.
So bleibt wenigstens genug Zeit, um einen Döner zu essen. Zu diesem Zeitpunkt wissen wir noch nicht, wie sehr wir diese Zwischenmahlzeit brauchen werden.
"Wir fliegen leider nicht nach Edinburgh"
Verschwitzt, aber glücklich kommen wir schließlich am Flughafen an. „Gerade noch geschafft“, denken wir und gehen mit einem Lächeln zur Gepäckabgabe. Noch mehr freuen wir uns, als wir sehen, dass es keine Schlange gibt und wir direkt zum Kofferband gehen können.
„Guten Abend“, sagen wir lächelnd und überreichen unsere Tickets. Der Mann am Schalter blickt auf die Tickets, sieht uns an, schaut wieder auf die Tickets, macht eine kurze Pause und sagt dann: „Sie möchten nach Edinburgh fliegen?“ Ich antworte mit „ja“ und sehe mich vor meinem geistigen Auge schon im Flieger sitzen. Da reist mich der Mann aus meinem Tagtraum: „Wir fliegen leider nicht nach Edinburgh.“
Ich kann es nicht glauben. Das muss ein Scherz sein. „Schauen sie hier“, sagt er und zeigt auf unser Ticket. Da steht bei Abflughafen nicht „Köln/Bonn Flughafen“, sondern „Frankfurt Hahn“.
Ich schlucke, als mir bewusst wird, dass der Mann keinen Scherz macht und wir wirklich zum falschen Flughafen gefahren sind. Mein Kopfkino spielt jetzt einen neuen gar nicht mehr so schönen Film ab: Ich sehe mich, wie ich die beiden nächsten Wochen in Koblenz verbringe und meiner Familie und meinen Freunden gestehen muss, dass wir es nicht geschaffft haben, zum richtigen Flughafen zu fahren.
Keine schöne Vorstellung. Denn ein Blick auf die Uhr zeigt, wir werden es niemals schaffen, den Flug in Frankfurt Hahn zu bekommen.
Nachdem wir einmal, zweimal, dreimal tief durchgeatmet haben, überlegen wir, welche Möglichkeiten wir jetzt haben:
Wir bleiben in Deutschland und machen uns eine schöne Zeit in Siegen und/oder Koblenz
Wir buchen einen neuen Flug nach Edinburgh
Wie entscheiden uns für die zweite Möglichkeit, gehen zu einem anderen Schalter und fragen, wann der nächste Flug nach Edinburgh geht. „Das wäre dann in zwei Tagen. Es sind allerdings nur noch zwei Plätze frei. Außerdem startet der Flug in Düsseldorf Weeze“ Fast einstimmig sagen wir: „Kein Problem. Den nehmen wir“
Auf dem Rückweg zum Auto zeigt Pascal in den Nachthimmel: „Ob das das Flugzeug ist, das wir verpasst haben?“ Wir schauen nach oben und müssen beide plötzlich lachen.
Vier Tage zuvor
Was macht man mit einem Tag, an dem alle Pläne zunichtegemacht wurden? Ich entscheide mich, das Geschenk anzunehmen. Ein Tag ohne Pläne, aber dafür voller Freiheit.
Als Pascal Abends von der Uni kommt und sich neben mich an das Flussufer der Sieg setzt, wirkt er traurig und verärgert. Nach einigen Sekunden erfahre ich den Grund: Sein Portemonnaie wurde geklaut.
Drei Tage zuvor
„Wir werden diesen Flug nicht verpassen!“ Mit diesem Gedanken schließe ich an diesem Abend meine Augen und versuche zu schlafen. Obwohl ich weiß, dass wir drei Wecker gestellt haben und alle Dokumente vor dem Schlafengehen drei Mal gegengecheckt haben, kann ich die aufsteigende Nervosität nicht unterdrücken. „Ist es schon mal passiert, dass jemand zwei Flüge hintereinander verpasst hat?“
Um vier Uhr morgens klingelt der erste Wecker. Ich bin sofort wach und auf den Beinen. Bevor wir zum Bahnhof gehen, schaue ich noch einmal auf unsere Tickets: „Abflughafen 'Düsseldorf Weeze'“ steht da. Immer noch. Natürlich. Aber sicher ist sicher.
Von Siegen fahren wir über Hagen nach Düsseldorf und von dort schließlich an die niederländische Grenze. In Weeze angekommen, sehen wir unseren Flug auf der Infotafel und laufen zielstrebig zur Gepäckabgabe. Nach einem kurzen Gespräch müssen wir wieder mit unserem Koffer umkehren.
"Vor meinem inneren Auge sitzen wir wieder in der Regionalbahn in Richtung Düsseldorf"
Diesmal, weil wir zu früh sind.
Fünfzehn Minuten später stehen wir – diesmal pünktlich – erneut bei der Gepäckabgabe und werden erneut abgewiesen. Nachdem die Mitarbeiterin von RyanAir Pascals Reisepass von allen Seiten ausgiebig betrachtet, auf seine Stabilität und Echtheit überprüft hat, teilt sie uns mit: „So können wir Sie nicht mitnehmen. Der Reisepass hat einige Mängel und ist damit ungültig. Haben Sie einen Personalausweis dabei?“
Sie konnte ja nicht wissen, dass Pascals Portemonnaie mit allen anderen wichtigen Dokumenten geklaut wurde.
Vor meinem inneren Auge sitzen wir wieder in der Regionalbahn in Richtung Düsseldorf.
Ich bin kurz vorm Durchdrehen und versuche mich an Entspannungstechniken zu erinnern, die ich beim Yoga gelernt habe. Einatmen … ausatmen … einatmen … ausatmen … .
Das funktioniert erstaunlich gut und so habe ich mich fast schon mit unserem Schicksal abgefunden bzw. mir überlegt, ob es okay ist, darüber nachzudenken, alleine nach Schottland zu fliegen, als eine weitere Mitarbeiterin zu uns kommt. Sie erklärt uns freundlich, dass wir uns beim Zoll ein Ersatzdokument ausstellen lassen können.
So sitzen wir dann doch noch im Flugzeug nach Schottland. Ich kann kaum glauben, dass wir es wirklich geschafft haben.
Zwei Tage zuvor
Auf dem Weg zum Mietwagenverleih beschleicht mich ein ungutes Gefühl. Ich gehe noch mal die Checkliste durch und versuche mich zu beruhigen. Das Geld ist überwiesen, ich habe alle notwendigen Dokumente dabei. Was soll schief gehen?
„Es tut mir leid. Diese Kreditkarte können wir nicht akzeptieren“, sagt die Frau am Schalter. „Hat ihr Partner eine Kreditkarte dabei, die wir ausprobieren können?“ „Nein, sein Portemonnaie wurde geklaut“, erwidere ich resigniert.
Ich überlege kurz. Es muss doch eine Lösung geben: „Kann ich die Kaution in bar hinterlegen?“, frage ich. „Nein. Das ist leider nicht möglich“, sagt die Frau auf der anderen Seite. „Können wir den Mietwagen dann stornieren?“ „Nein. Auch das können wir leider nicht. Dafür müssen Sie sich an Ihren Anbieter wenden, bei dem Sie den Mietwagen gebucht haben.“
Ich krame mein Handy aus der Tasche, wähle die Rufnummer der Service-Hotline, die ich in den Unterlagen gefunden habe und hoffe, dass es sich nicht um eine kostenpflichtige Rufnummer handelt. Am anderen Ende meldet sich eine freundliche Stimme „Guten Tag, wie kann ich Ihnen helfen?“ Ich schildere unsere Situation und die freundliche Stimme erwidert: „Es tut mir leid. Da kann ich Ihnen nicht helfen. Es ist Sonntag und wir sind nur die Vertretung. Melden Sie sich bitte morgen noch einmal.“
Am Ende entscheiden wir uns trotzdem für einen Mietwagen und ein anderes Unternehmen, das die Kreditkarte übrigens ohne Probleme akzeptiert hat.
Ein Tage zuvor
Glücklich über die Entscheidung, trotzdem einen Mietwagen gebucht zu haben, fahren wir am nächsten Tag gut gelaunt durch kleine schottische Dörfer. Vorbei an sanft geschwungenen grünen Hügeln und neugierigen Schafen. Wir haben Zeit und wollen spontan entscheiden, wo wir anhalten und was wir uns anschauen. Als wir ein Schild sehen auf dem „Stirling Castle“ steht, sind wir uns beide schnell einig, dass wir uns das Schloss ansehen möchten.
Ohne weitere Zwischenfälle finden wir einen Parkplatz und gehen in Richtung Schlosspark. Während ich ein Eis hole, fotografiert Pascal die steinernen Mauern und die Aussicht. Ich setze mich neben ihn auf die Wiese und genieße die Sonne, als plötzlich etwas auf den Boden fällt.
Es ist Pascals Smartphone. Eigentlich kein Problem – auf einer Wiese. Eigentlich. Doch scheinbar hatte ein kleiner Stein eine magische Anziehungskraft auf das technische Gerät. Das Zusammentreffen von Smartphone und Stein hat nur einer von beiden unbeschadet überstanden.
Heute
Seit zehn Minuten steigt das Wasser in meinen Wanderschuhen langsam, aber stetig an. Die dicht gewachsenen Bäume schützen zwar vor dem strömenden Regen, doch gegen die Wassermassen in dem schlammigen Sumpf, den die Nationalparkverwaltung des Nationalparks als Wanderweg bezeichnet, können selbst die besten Wanderschuhe nach einiger Zeit nichts mehr ausrichten.
Als ich aus dem Wäldchen auf eine freie Fläche hinaustrete und die Regentropfen unbarmherzig auf meinen Kamerarucksack einprasseln, rechne ich mit dem schlimmsten.
Doch nichts passiert. Am Ende des Tages sind wir zwar vollkommen durchnässt, aber die Kameraausrüstung ist trocken geblieben.
Als ich an diesem Tag im Bett liege und die Augen schließe, kann ich es kaum glauben, dass alles gut gegangen ist. Wir sind nirgendwo zu spät angekommen, mussten keine Dokumente vorzeigen, die wir nicht haben und es ist nichts kaputt gegangen.
Was für ein Glück.